Region Hannover/ Hannover. Die Zahl der Opfer von häuslicher Gewalt in der Region Hannover ist deutlich angestiegen – und die Fälle werden brutaler. „Kiefer- und Jochbeinbrüche kommen immer häufiger vor“, sagt Franziska Burbulla, Leiterin der AWO Koordinierungs- und Beratungsstelle bei häuslicher Gewalt. Die Einrichtung im BISS-Verbund (Beratungs- und Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt) ist die erste Anlaufstelle, wenn Frauen in der Region Hannover Opfer von Beziehungsgewalt werden und sie die Tat bei der Polizei anzeigen. Wie viele Fälle es im vergangenen Jahr waren, welche Ursachen der Anstieg hat und welche Maßnahmen sinnvoll sind – darüber sprachen sie und weitere Vertreter*innen der AWO Region Hannover jetzt mit Dr. Andreas Philippi (SPD), dem niedersächsischen Minister für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung. Der Minister, der seit Januar im Amt ist und zuvor viele Jahre als Unfallchirurg tätig war, besuchte die AWO Einrichtung im Ahrbergviertel in Hannover-Linden, um die Arbeit der AWO Koordinierungs- und Beratungsstelle bei Häuslicher Gewalt vor Ort kennenzulernen und sich über die aktuelle Situation zu informieren.
Fast 1000 Fälle häuslicher Gewalt hat die AWO im vergangenen Jahr bearbeitet – Tendenz steigend. Die Region Hannover ist dabei kein Ausreißer, wie die bundesweiten Zahlen belegen: 240.547 Menschen waren 2022 Opfer von häuslicher Gewalt, rund 8,5 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. „Betroffen sind vor allem Frauen und Kinder sind immer mitbetroffen“, betont Burbulla. 1511 betroffene Kinder registrierte die AWO Stelle im vergangenen Jahr. „Sie sind immer Opfer einer solchen Situation, denn sie erleben eine psychische Belastung, die sie zum Teil ein Leben lang prägt“, so Burbulla. So komme es häufig vor, dass betroffene Mädchen später selbst Gewaltbeziehungen erleben und Jungen Gewalt als Konfliktlösungsstrategie ansehen.
Der Minister wollte von Burbulla wissen, wie sie die steigenden Zahlen einschätzt – ob sie eine Verrohung in der Gesellschaft widerspiegelten oder sich einfach mehr Opfer trauen, die Taten anzuzeigen. „Wir leben in angespannten Zeiten – in Krisen steigen auch die Zahlen häuslicher Gewalt“, so die Einrichtungsleiterin. Besonders die Corona-Pandemie habe viele Menschen an ihre Belastungsgrenze gebracht. „Wir spüren jetzt die Nachwirkungen“. Und Krisen, die die Menschen belasten, gebe es weiterhin: der Ukraine-Krieg, die Meldungen zum Klimawandel und die wirtschaftlich unsicheren Zeiten. Positiv sei: Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit führten dazu, dass mehr Taten angezeigt werden. „Wenn die Betroffenen wissen, wo sie Hilfe erhalten können, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie der Gewaltspirale entfliehen“, so Burbulla.
Und es sei immer wieder wichtig, das Thema häusliche Gewalt aus der Tabu- und Schamzone zu holen. Positiv sei außerdem, dass die Polizei in Niedersachsen stärker auf das Thema sensibilisiert wurde, wofür auch eine neue Handreichung sorge. Verbesserungspotenzial sieht Burbulla dagegen bei der Justiz: Wenn es nach der Trennung oder Scheidung darum geht, wie der Umgang der Täter mit ihren Kindern geregelt wird. „Hier sind die Richter viel zu nachsichtig mit den Tätern. Dabei müsste es in den meisten Fällen einen Umgangsstopp geben“, so Burbulla. Der Minister will diese Forderung an seine Kollegin im Justizministerium weitergeben.
Insgesamt sei die Region Hannover mit ihrem Angebot an Frauenhäusern und Frauenberatungsstellen mittlerweile gut aufgestellt. „Unsere Beratungsstellen sind sehr gut ausgelastet und die Angebote könnten personell noch verstärkt werden, aber in den vergangenen Jahren hat sich schon viel getan“, sagt Ute Vesper, Leiterin des AWO Fachbereichs Frauen. Es gebe ausreichend Plätze in Frauenhäusern, allerdings führe der Wohnungsmangel in Hannover dazu, dass die Frauen zu lange in einem Frauenhaus verweilen und der Schritt in die Eigenständigkeit dadurch verzögert wird. „Alleinstehende Frauen mit Kindern haben es besonders schwer auf dem Wohnungsmarkt“ so Vesper.
Text & Foto: Christian Degener/AWO