Für die meisten Kinder ist Sprache etwas ganz Selbstverständliches: Wie nebenbei lernen sie zu verstehen und zu sprechen. Aber es gibt Kinder, bei denen diese Prozesse nicht reibungslos ablaufen. In der Kita Ratswiese der AWO Region Hannover, dem einzigen Hör- und Sprachheilkindergarten in Hannover, hilft man Kindern mit einer Sprachentwicklungsstörung und anderen logopädischen Störungsbildern. Logopädin Corina Dannenberg (Bild, rechts) übt mit Deniz.

Willst du reden?

Titelgeschichte aus dem neuen AWO Magazin ImPuls

Frisches Design, ein Schwerpunkt und viele weitere spannende Themen: Wir haben unsere Verbandszeitschrift als Magazin neu aufgelegt! Mit dem neuen Namen „ImPuls“ und dem bekannten AWO Signet greifen wir das Symbol des Herzens und indirekt den Herzschlag auf und betonen damit die Bedeutung der AWO als Impulsgeber und Innovationsträger. Im Fokus der ersten Ausgabe steht das Thema Sprache bei der AWO in all seinen Facetten. Titelgeschichte ist eine Reportage über den 6-jährigen Deniz – er hat eine Sprachentwicklungsstörung und macht große Fortschritte im AWO Hör- und Sprachheilkindergarten. Hier können Sie die Titelgeschichte lesen:

Willst du reden?

Text: Julia Meyer-Hermann
Fotos: AWO/ Christian Degener

Hannover. Für die meisten Kinder ist Sprache etwas ganz Selbstverständliches: Wie nebenbei lernen sie zu verstehen und zu sprechen. Aber es gibt Kinder, bei denen diese Prozesse nicht reibungslos ablaufen. In der Kita Ratswiese der AWO Region Hannover, dem einzigen Hör- und Sprachheilkindergarten in Hannover, hilft man Kindern mit einer Sprachentwicklungsstörung und anderen logopädischen Störungsbildern.

Montage beginnen hier laut, ohrenbetäubend laut. Es ist kurz nach acht Uhr morgens und über fünfzig Kinder springen, rennen und drängeln im Eingangsbereich der Kita Ratswiese im Stadtteil Limmer.  Amina* zerrt am Reißverschluss ihrer Jacke. Mirko sucht nach seinem zweiten Hausschuh. Annette guckt ein bisschen traumverloren auf das Tohuwabohu des Ankunftsszenarios. Kurz: ein ganz gewöhnlicher Start in die Kindergartenwoche. 

Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass etwas anders ist. Vor Nadine Fedder, der stellvertretenden Leiterin der Kindertagesstätte, steht plötzlich ein Junge, der wild mit den Armen hinter sich zeigt und dann auf der Stelle rennt. „Ich soll ganz schnell kommen?“, fragt die 39-Jährige. „Was ist denn passiert, Niklas?“ Niklas sagt etwas, dass nach „Leo“ oder auch „Lina“ klingt. Er spricht hastig und kehlig. Seine Worte sind schwer verständlich, umso deutlicher reden seine Hände: Niklas legt eine geballte Faust auf seine Wange und deutet mit den Fingern Tränen an, die er aus den Augen wischt. „Linus ist geschlagen worden und weint? Ich komme“, sagt Nadine Fedder und geht dem Fünfjährigen hinterher. 

„Viele unserer Kinder behelfen sich mit Gestik und Mimik“, erklärt die Erzieherin später. „Anders schaffen sie es oft noch nicht, ihre Wünsche und Gefühle auszudrücken.“ In der AWO Kita Ratswiese werden insgesamt 56 Kinder in acht Gruppen betreut. Jeder Gruppe sind zwei Erzieherinnen und ein/e Logopäde/Logopädin zugeteilt. Der hohe Betreuungsschlüssel ist wichtig, denn die Kinder brauchen eine besonders aufmerksame Zuwendung. Acht von ihnen haben zusätzlich Hörstörungen, sie tragen ein Hörgerät oder ein Cochlea-Implantat, um Audiosignale an das Innenohr zu übertragen. 48 haben eine sogenannte Sprachentwicklungsstörung: Bei ihnen verlaufen wesentliche Entwicklungsschritte anders als bei anderen Kindern. Sie lernen Sprache nicht wie nebenbei. „Für die meisten Menschen ist Kommunikation etwas vollkommen Selbstverständliches“, sagt Nadine Fedder. Zwar haben relativ viele Kinder irgendwann Sprach- und/oder Sprechauffälligkeiten wie ein leichtes Lispeln, ein zwischenzeitiges Stottern oder Buchstaben- und Silbendreher. Meistens kann ihnen aber mit wenig Aufwand geholfen werden. 

„Die Ratswiese-Kinder haben Schwierigkeiten in einem ganz anderen Ausmaß. Bei einem Großteil sind nahezu alle sprachlichen Ebenen betroffen“, sagt Jochen Rastedter. Der 51-Jährige gehört seit 16 Jahren zum Logopädie-Team der Sprachheilkita. Seine Schützlinge haben nicht nur große Mühe mit der Aussprache, ihnen fehlen oft auch ein altersgemäßer Wortschatz und jegliche Grammatik. Sie haben Probleme, die Grundstruktur von Sprache zu begreifen, Singular und Plural zu unterscheiden, Subjekt und Verb zu verbinden. Oft verstehen die Kinder selbst vermeintlich einfache Aussagen nicht korrekt.

Deniz, 6 Jahre, ist so ein Kind. Genauer gesagt: Er war es. Als er 2019 in die Kita kam, sprach er nicht. Kein Wort. „Meine Frau und ich waren verzweifelt. Alles, was wir versucht haben, hat nichts geändert“, erinnert sich sein Vater Yener D. In dem Kindergarten, in dem Deniz vorher war, war er durch diese Sprachlosigkeit vollkommen allein. Er redete und spielte mit keinem. Er wartete nur darauf, abgeholt zu werden. „Inzwischen ist Deniz ein ganz anderer Junge“, sagt sein Vater. Auch Nadine Fedder nimmt das so wahr: „Deniz hat einen Wahnsinnssprung gemacht. Sein Wortschatz ist nicht altersgemäß, aber er kann sich ausdrücken.“ 

Zwei Mal pro Woche arbeitet Jochen Rastedter in Einzeltherapie-Sitzungen mit Deniz. Außerdem ist der Logopäde in den Alltagsablauf der Einrichtung eingebunden. Die Sprachtherapeuten sitzen unter anderem beim Frühstück und Mittagessen mit am Tisch, sie spielen und reden mit den Kindern. „Ich versuche mit jedem Kind eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Sonst funktioniert alles andere nicht“, erklärt Jochen Rastedter. Er konzentriere sich bei seiner Therapie auf die Ressourcen und Stärken des Kindes, nicht auf die Defizite. Die stehen ohnehin oft im Vordergrund. 

Die vorschnelle Schlussfolgerung zu den Sprachdefiziten lautet bei Außenstehenden häufig, dass es diesen Kindern an Intelligenz mangelt. Dass sie, wie man umgangssprachlich sagt, „nicht ganz helle sind“. Aber das stimmt nicht. Abgesehen von ihrer Sprachstörung und den Hörproblemen sind die „Kita Ratswiese“-Kinder gesund, sie haben keine hirnorganischen Schäden. Aufgrund ihrer Lebensgeschichte bringen aber einige motorische und kognitive Einschränkungen mit. Wer nicht reden kann, mit dem spricht man auch nicht über komplexe Inhalte. Wer nicht spricht, wird von anderen Kindern auch nicht zu Rollenspielen oder zum Fangen aufgefordert. 

„Was habt ihr am Wochenende gemacht? Zeigt mal eure Mappen!“ Jeden Montagmorgen beginnt Erzieherin Elke Reinhold aus der „Hör-Gruppe“, den Stuhlkreis mit einem Gespräch über die letzten Tage. Sie redet auffallend laut und deutlich, die acht Kinder ihrer Gruppe hängen an ihren Lippen. Julian und Nirma springen auf, rennen zur Garderobe. Oh, die Mappen haben sie im Rucksack vergessen! „Die Schnellhefter helfen beim Austausch mit den Familien“, erklärt Elke Reinhold. Die Kinder kommen aus dem gesamten Stadtgebiet. Sie werden nicht von ihren Eltern, sondern von Sammeltaxen zum Kindergarten gebracht und auch wieder abgeholt. Gespräche zwischen Tür und Angel sind zwischen Kita-Personal und Eltern also nicht möglich. Aber ein Austausch soll auch außerhalb der Entwicklungsgespräche und Hospitationen stattfinden. „In den Mappen übermitteln wir den Eltern wöchentlich kleine Nachrichten mit wichtigen Infos“, erklärt die Erzieherin. „Außerdem malen die Eltern darin oder kleben Fotos ein, um den Kindern bei ihren Beschreibungen des Wochenendes zu helfen.“ 

Nirma zeigt auf ein kleines Bild mit einer Frau auf der ersten Seite. „Oma da“, sagt die 5-Jährige. „Aha, deine Oma war da“, ergänzt die Erzieherin. „Baby hat viel weint“, sagt Nirma. „Das Baby hat viel geweint“, wiederholt die Erzieherin. „Diese Variante des Korrigierens nennt man das korrektive Feedback“, erklärt Logopädin Corina Dannenberg, die seit 14 Jahren in der Kita arbeitet.„Dabei wird die fehlerhafte Äußerung des Kindes korrekt wiederholt, ohne dass man es explizit auf den Fehler aufmerksam macht.“ Ist ein Teilbereich in der Therapie ausreichend bearbeitet worden und das Kind sicherer und selbstbewusster, kann man es auch ­bitten, das Gesagte korrekt zu wiederholen. 

Woher die sprachlichen Defizite der Kinder kommen, ist meistens nicht eindeutig zu klären. Es gibt Familien, in denen diese Problematik öfter auftritt und bei denen schon ein Geschwisterkind oder sogar ein Elternteil die Kita Ratswiese besucht hat. Vor einigen Jahren wurde von Forschern auch ein Gen identifiziert, FOXP2, bei dem eine leichte Mutation zu Störungen des Spracherwerbs führt. Aber das betrifft nur einen Bruchteil aller Sprach-Patienten. Das Klientel der Kita Ratswiese ist bunt gemischt. „Wir haben hier Kinder aus Arbeiter- oder Akademiker-Familien, Kinder von ganz jungen oder sehr viel älteren Eltern, Einzelkinder oder Kinder aus Großfamilien, Kinder mit rein deutschsprachigem oder bilingualen Hintergrund“, sagt Nadine Fedder. 

Das Bewusstsein für ihre Störung schüchtert die Kinder oft ein

Was die Kinder eint, sind die schmerzhaften Erfahrungen, die sie wegen ihres Handicaps gemacht haben. „Sie wissen, dass sie nicht der Norm entsprechen und sind deswegen schon oft ausgeschlossen worden“, sagt Jochen Rastedter. So wie Deniz waren auch die anderen Kinder vorab in regulären Kindergärten, wo oft über ihre sprachlichen Möglichkeiten gelacht wurde. Das hallt bei vielen lange nach: Das Bewusstsein für ihre Störung schüchtert sie so ein, dass sie am liebsten gar nichts sagen, erst Recht nicht vor einer Gruppe. Gezwungen wird hier niemand.  „Bei zusätzlichem Druck machen die Kinder zu. Ich mache Angebote. Bislang hat das jedes Kind irgendwann angenommen“, erklärt der Logopäde. „Es geht darum, die Freude am Sprechen zu entdecken und zu fördern“, sagt seine Kollegin Corina Dannenberg. Es geht auch um Selbstwert und Selbstbewusstsein. 

Alle Kinder erhalten in der Kita die Möglichkeit, die Achtsamkeit für sich zu schärfen und ihren Körper besser kennen zu lernen. Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung haben häu­­figer motorische Defizite, sie hüpfen, rennen oder balancieren nicht so souverän. Diplom-Pädagoge Benno Schaa organisiert jeden Morgen ein kleines Rennen durch die angrenzende Schrebergartenkolonie, damit mal alle fühlen, wie schnell ihr Herz schlagen und der Atem gehen kann. Motopädin Anne Knaak bietet jede Woche verschiedene psychomotorische Stunden an, einen leichten Kletterparcours etwa. Nadine Fedder lässt ihre Schützlinge in kleinen Wannen baden: mit viel Schaum oder Badefarben, „damit sie spüren, wie ihr Körper darauf reagiert.“

Der Tag in der Kita Ratswiese endet um 14 Uhr. Danach sind die Kinder müde, manch eines schläft im Taxi ein. Die Stunden dort sind intensiv. Die Kinder holen auf, was Jahre lang versäumt wurde. Die meisten kommen erst mit fünf Jahren in die Einrichtung. Bis ihr Sprachproblem als solches erkannt wird, verstreichen oft Monate oder ­Jahre. „In dieser Zeit schließen sich Entwicklungsfenster, die wir dann therapeutisch mit Mühe wieder öffnen müssen“, erklärt Jochen Rastedter.  Auch Deniz wurde bei den kinderärztlichen Untersuchungen immer wieder als „Late Talker“ eingestuft. „Das verwächst sich, das entwickelt sich“, lautete die Einschätzung des Kinderarztes. „Meine Frau und ich spürten, dass etwas nicht stimmt“, sagt Yener D. „Aber bis wir endlich einen Termin bei der entsprechenden Fachstelle mit der entsprechenden Diagnose erhielten, vergingen Monate.“

Wenn Familien einen Platz im Sprachheilkindergarten bekommen haben, lautet die erste Frage der Eltern fast immer: Kriegen Sie das hin mit der Sprache bis zur Einschulung? Die nächste ist: Was können wir tun? Die zweite Frage lässt sich einfacher beantworten, sagt Nadine Fedder. „Spielen, reden, vorlesen, aufmerksam sein.“ 

Schon nach zwei, drei Wochen in der Kita kommen viele Eltern auf die Erzieherin zu und schwärmen von dem unglaublichen Erfolg. „Dahinter steckt aber zunächst meistens die Steigerung des Selbstbewusstseins und weniger die Verbesserung der sprachlichen Fähigkeiten.“ Die Kita-Leiterin gibt niemandem eine konkrete Prognose. Es gibt Kinder, die nach einem oder zwei Jahren den Sprung in eine Regelgrundschule schaffen. Es gibt Kinder, die zunächst auf einer Sprachheilschule besser aufgehoben sind. Es gibt Kinder, für die Sprache schwierig bleiben wird. „Wir können aber allen dabei helfen, ihre Ängste abzulegen und mit anderen zu kommunizieren“, sagt Nadine Fedder. Deniz zum Beispiel hat in der Kita Freunde gefunden. Auf dem Spielplatz geht er inzwischen auf fremde Kinder zu. Er ist nicht mehr einsam und unglücklich. Und das ist schließlich das Wichtigste.  

*die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert

Die gesamte erste Ausgabe des neuen AWO Magazins ImPuls gibt es hier: https://www.awo-hannover.de/impuls/

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