Mesude Aydogdu mit ihren Kindern.

Hast du Wörter?

Rucksack KiTa erhöht die Bildungs- und Chancengleichheit bei Kindern

Im Fokus der aktuellen „AWO ImPuls“ steht das Thema Teilhabe. Wie das Programm Rucksack KiTa, das die AWO Region Hannover in elf Familienzentren und Kindertagesstätten umsetzt, Bildungs- und Chancengleichheit erhöhen kann, stellt die Journalistin Julia Meyer-Hermann in der Titel-Reportage dar. 

Region Hannover/ Hannover. Die Familienähnlichkeit ist offensichtlich. Oma und Opa, Mama und Papa und obendrein alle drei Kinder haben den gleichen Eierkopf, ausgeprägte Segelohren und winzige Punktaugen. Ihr Lächeln ist ein schmaler Strich, ihr Haarwuchs spärlich. Mesude Aydogdu guckt auf das Portrait ihrer Verwandtschaft und lacht. „Yasin, du hast dir nur ein Ohr gemalt“, sagt sie und blickt ihren sechsjährigen Sohn an. Der zuckt mit den Schultern und grinst verlegen. Nein, er malt nicht gern. Wirklich nicht. Das weiß seine Mutter auch. „Macht nichts“, sagt die 32-Jährige. „Wichtiger ist, dass wir miteinander reden. Sprechen, zuhören, verstehen – darum geht es hier.“ Mesude Aydogdu greift sich den Ordner, der vor ihr auf dem Esszimmertisch liegt, zieht ein Blatt heraus und zeigt es ihrem Sohn. „Guck mal, was siehst du hier? Was passiert hier?“ Yasin wirft einen kurzen Blick auf die dort abgebildete Szene, dann beginnt er zu erzählen: Von Oma und Opa, die zu Besuch sind. Dass sich alle darüber freuen. Dass die Kinder die Kekse mögen und die Eltern den Kaffee. Warum Papa so stark aussieht und Mama etwas müde. Dass Opa Falten auf der Stirn hat. Seine Mutter hört aufmerksam zu, nickt viel und stellt immer wieder Fragen, die den Gesprächsfluss am Laufen halten.

Sie hat gelernt, wie wichtig dieses Miteinander-Reden für ihren Sohn ist, wie sehr dabei seine Sprachkompetenz trainiert wird. Die 32-Jährige nimmt mit dem Sechsjährigen an dem Programm Rucksack KiTa teil, das in ihrem Kindergarten angeboten wird. Es unterstützt Kinder aus mehrsprachigen Familien dabei, ihre Deutschkenntnisse zu verbessern und gleichzeitig die Muttersprache der Eltern weiter zu trainieren. Ursprünglich kommt der Ansatz von Rucksack KiTa aus den Niederlanden. Mitte der 1990er Jahre wurde er zunächst in Nordrheinwestfalen adaptiert. Seit 2005 gibt es das Programm auch in Hannover. Die AWO ist dabei Kooperationspartnerin der Stadt Hannover. Rucksack KiTa wird inzwischen in elf Kindertagesstätten der AWO angeboten, im Jahr 2020 nahmen 113 Familien daran teil. Dazu kamen noch zwei Griffbereit-Gruppen, die sich an Ein- bis Dreijährige und ihre Eltern richten und an dem weitere 27 Familien teilnahmen.

Der „Rucksack“ ist dabei ein Sinnbild für etwas, das man füllt und von A nach B bringt: Er wird zwischen Einrichtung und Elternhaus hin- und hergetragen, gefüllt mit Übungen und Anregungen für die Kinder. Bei diesem Sprachförderungskonzept arbeiten Erzieher/innen und Eltern in enger Abstimmung mit den gleichen Materialien. Man kann das als eine Art Erziehungspartnerschaft verstehen. Die Eltern können mit ihren Kindern in ihrer Muttersprache über bestimmte Themen reden, über „Familie“ beispielsweise oder über „Jahreszeiten“. Die Materialien dazu gibt es in 16 Sprachen. Die pädagogischen Fachkräfte behandeln im Kindergartenalltag die gleichen Fragestellungen auf Deutsch. Dazu gehören auch praktische Übungen: Steht „Essen und Trinken“ auf dem Programm, gehen sie zum Beispiel zusammen einkaufen. „Eine der Erzieherinnen erklärt dann etwa auf dem Markt, was eine Gurke, eine Paprika oder eine Tomate ist“, erklärt Mesude Aydogdu. „Ich kann Zuhause die arabischen Vokabeln beibringen.“

Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt sollen als Kompetenz wahrgenommen werden

„Wir richten unser Augenmerk bei diesem Angebot auf die vorhandenen Ressourcen“, sagt Sabine Koch. Die Sozialpädagogin ist eine von drei Koordinatorinnen des Rucksack-Programms bei der AWO Region Hannover. „Wir nehmen die Mehrsprachigkeit und die kulturelle Vielfalt als Kompetenzen wahr und leiten die Teilnehmenden dazu an, sie zu nutzen.“ Mit diesem Ansatz fördert das Programm letztendlich nicht nur die sprachlichen Fähigkeiten: Weil die Kinder die Zweisprachigkeit als Bonus erleben und begreifen, dass sie das auszeichnet, gewinnen sie auch an Selbstbewusstsein. „Dass sie sich angenommen und wertgeschätzt fühlen, spiegelt sich dann auch bei anderen Entwicklungsschritten und in ihrem Umgang mit anderen wider“, sagt Sabine Koch. Die Rucksack-Kinder gingen beispielsweise offener und aktiver auf andere zu, das bekommt die Sozialpädagogin immer wieder aus den Einrichtungen mitgeteilt. Sie erklären sich gegenseitig Wörter. Sie übersetzen für Kinder, die neu dazu kommen und wenig verstehen. Sie schnappen Begriffe aus weiteren Sprachen auf.

Rucksack KiTa fördert Bildungsgleichheit und verhindert schulische Misserfolge

Für Mesude Aydogdu ist die Teilnahme an dieser Sprachförderung bereits der dritte Durchlauf. Die 32-Jährige hat vier Kinder zwischen zwölf und zwei Jahren. 2011 kam ihr Erstgeborener, ihr Sohn Esat, in das Familienzentrum Mühenkamp. In dieser Kindertagesstätte haben über 90 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund, viele von ihnen sprechen beim KiTa-Start nur wenig Deutsch. Das war bei Esat Aydogdu zwar anders, trotzdem war seine Mutter sofort interessiert, als sie von dem Sprachförderungsangebot hörte. „Das könnte gut sein für uns, habe ich damals gedacht. Ich passe schließlich genau zur Zielgruppe.“ Mesude Aydogdu ist selbst mit mehreren Sprachen groß geworden: Sie ist in der Türkei geboren, aber bei ihr Zuhause wurde arabisch gesprochen, denn ihre Eltern stammen ursprünglich aus dem Libanon. Als sie sechs Jahre alt war, zogen ihre Eltern nach Hannover. „Da kam dann die dritte Sprache dazu. Mit meinen Freundinnen in der Schule und der Nachbarschaft sprach ich türkisch, mit meinen Eltern arabisch, in der Schule deutsch.“

Die 32-Jährige hat nie Arabisch schreiben und lesen gelernt, das galt nicht als wichtig. Und bei ihrem Schriftdeutsch konnten ihre Eltern ihr nicht wirklich helfen. Sie weiß also, welche schulischen Schwierigkeiten Mehrsprachigkeit mit sich bringen kann. Sprache zählt zu den wichtigsten Schlüsselkompetenzen für ein lebenslanges Lernen und für den späteren Erfolg in den Bildungsinstitutionen. Besonders für Kinder, die am Anfang ihrer Sprachentwicklung stehen, sind die frühe Sprachbildung und die frühe sprachliche Unterstützung von großer Bedeutung. Dabei hat Professorin Argyro Panagiotopoulos in Untersuchungen zu Mehrsprachigkeit gezeigt, dass Kinder sich nicht mittels einer Sprache verständigen, sondern alle ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen mischen und sich kreativ dieser Vielfalt bedienen. Hier spricht die Wissenschaftlerin von Translanguaging. Dies beeinflusst den Erwerb der deutschen Sprache nicht negativ. Daher wird bei Rucksack KiTa Mehrsprachigkeit als Zukunftsperspektive für Bildungsinstitutionen begriffen und im Zuge von Inklusion und Teilhabe nicht mehr als individuelle Besonderheit oder gar als Defizit betrachtet. „Es geht um die gleichwertige Anerkennung aller Sprachen und um die Akzeptanz von Diversität „Es ist unsere gesellschaftliche Aufgabe, ihnen diese Chancen anzubieten“, sagt Rucksack-Koordinatorin Sabine Koch.

Mehrsprachige Elternbegleiterinnen unterstützen die Familien 

Mesude Aydogdu ist inzwischen eine richtige Sprachförderungsspezialistin. Die 32-Jährige hat das Programm bereits mit dreien ihrer vier Kinder durchgearbeitet. Mit ihrer Jüngsten fängt sie im Sommer an, wenn diese in den Kindergarten kommt. Inzwischen hat sich die vierfache Mutter auch zur Elternbegleiterin qualifizieren lassen und unterstützt andere Familien bei der Durchführung des Programms. Einmal pro Woche organisiert sie ein Treffen mit den Teilnehmerinnen aus der Kita Mühenkamp. Zwölf Rucksack-Mütter sind in Mesude Aydogdus Gruppe. „Väter gibt es sehr selten in diesen Gruppen.“ Die Elternbegleiterin gibt den Eltern das Material für die nächste Woche, es reicht immer für fünf Tage. Sie liest vor, was auf den Blättern steht: „Eigentlich auf Deutsch, manchmal wechsele ich bei Verständnisproblemen aber ins Türkische oder Arabische.“ Die Mehrsprachigkeit der Gruppe ist für sie kein Problem: Irgendwer kann immer aushelfen, notfalls werden Hände und Füße zur Erklärung dazu genommen. Die Teilnehmerinnen zeigen bei den Treffen, was ihre Kinder in der letzten Woche gearbeitet, gebastelt und gemalt haben. „Ich beruhige sie auch, wenn die Kinder anfangs kein großes Interesse haben“, sagt Mesude Aydogdu. „Druck bringt nichts.“ Es geht nicht darum, großartige Leistungen zu erzwingen. Die Regelmäßigkeit bringt den Erfolg. Und die Aufmerksamkeit, die den Kindern durch das Programm zuteil wird.

Die Mütter sind stolz, wenn sie die Fortschritte ihrer Kinder sehen. Und sie gewinnen auch selbst an Selbstbewusstsein dazu. „Sie bekommen viele pädagogische Anregungen und werden in ihrer Erziehungskompetenz bestätigt“, sagt Sabine Koch. Die Frauen finden außerdem oftmals den Anschluss, der ihnen in ihrem Alltag fehlt. Ghada Youseff beispielsweise, Elternbegleiterin einer anderen Kita, kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Die 46-jährige Ärztin aus Ägypten kannte niemanden in Hannover, als ihr Mann 2006 eine Stelle bei der MHH antrat. Sie selbst hatte keinen Job, fühlte sich einsam ohne ihre Verwandtschaft. „In der Gruppe habe ich Freundinnen gefunden. Wir tauschen uns auch über private Fragen aus und helfen uns bei Problemen.“ Dass diese Treffen wegen der Corona-Pandemie nun ausfallen mussten, empfinden alle als großen Verlust. Aber die Programm-Koordinatorinnen wissen sich zu helfen: Die monatlichen Updates zwischen Sabine Koch und den Elternbegleiterinnen finden virtuell statt. Aus den Zusammenkünften der Gruppen sind Einzelbetreuungen geworden: Mesude Aydogdu bringt den Teilnehmerinnen die Unterlagen oft persönlich vorbei. Es gibt Erklär-Videos zu den einzelnen Themen, vor kurzem hat Mesude Aydogdu auch Vorlese-Bücher verteilt. Sie ruft die anderen Mütter an, bespricht den Status quo Zuhause. „Es tut den Familien gut, wenn sie etwas zu tun haben. Es ist auch einfach wichtig, dass wir dranbleiben, bis wir uns irgendwann wieder treffen werden.“

Mesude Aydogdu sieht an ihren Kindern, wie viel dieses Engagement bringt. Kürzlich war sie mit ihrem Sohn Yasin bei der Schuleingangsuntersuchung. Der Sechsjährige schnitt dabei gut ab. Verständnis, Aussprache, Wortschatz – alles wunderbar. Bei ihren großen Kindern war es genauso. Ihr ältester Sohn Esat geht inzwischen auf ein Gymnasium. Die Sprachförderung durch Rucksack KiTa dürfte dazu beigetragen haben.

Diese gesamte Ausgabe der “AWO ImPuls” zum Durchblättern gibt es hier.

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