Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Einsamkeit. Das betrifft auch hunderttausende Flüchtlinge aus der Ukraine: Die meisten sind Frauen, die ihre Kinder in Sicherheit bringen wollten und dadurch ihre sozialen Netzwerke verloren haben. Oksana ist eine von ihnen. Sie hat durch das Engagement der AWO Familienbildung eine Anlaufstelle für ihre Fragen und Kontakte gefunden. Die aktuelle Ausgabe unseres Magazins “AWO ImPuls” beschäftigt sich mit dem Thema Einsamkeit & Isolation – hier kann man es online lesen: https://www.awo-hannover.de/impuls/
Die Einsamkeit überfiel sie ganz plötzlich. „Es war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt Oksana*. So, als wäre sie in ein Loch aus Kummer gestürzt. Eigentlich war an diesem Tag im Frühjahr 2022 nichts besonders Schlimmes vorgefallen: Die 44-jährige Ukrainerin hatte einen Termin bei einer Behörde der Landeshauptstadt Hannover gehabt. Sie hatte Formulare ausgefüllt, um Hilfen und Sprachförderung zu beantragen. Sie war einkaufen gegangen für das Abendessen mit ihren beiden Söhnen. Aber dann hatte es zwischendurch heftig angefangen zu regnen. Und als sie schließlich komplett durchnässt in ihrer Wohnung stand und sich daran erinnerte, dass früher vermutlich ihr Mann gekommen wäre, um ihr ein Handtuch zu bringen und die Einkäufe abzunehmen, war es um ihre Fassung geschehen. „Ich fühlte mich unendlich einsam“, erinnert sich Oksana. „Unfreiwillig dazu verdammt, ganz allein in der Mitte meines Lebens komplett neu anfangen zu müssen.“
Oksana stammt aus Dnipro, auch bekannt als Dnipropetrowsk, einer Stadt in der Zentralukraine. Die viertgrößte Stadt in der Ukraine ist in der kriegerischen Auseinandersetzung strategisch wichtig, sie liegt am Ufer des Dnepr-Flusses, etwa 400 Kilometer südöstlich von Kiew. In den letzten Wochen und Monaten wurde über Oksanas Heimatstadt oft in den Medien berichtet, weil es dort zu Angriffen auf zivile Einrichtungen kam.
Über ein Viertel der ukrainischen Geflüchteten empfindet sich als sozial isoliert
Oksana floh im März 2022 nach Hannover, zusammen mit ihrem 4-jährigen und ihrem 16-jährigen Sohn. Ihr Ehemann und der Rest ihrer Familie, Großeltern und Geschwister, blieben in der ukrainischen Metropole. Aber für Oksanas älteren Sohn war das Risiko zu groß, dort zu bleiben und dann plötzlich in den Krieg ziehen zu müssen. „Mein Mann und ich haben dann sehr schnell entschieden, dass ich sofort mit den Kindern aufbrechen sollte.“ In der Eile konnte die zweifache Mutter nur einen Koffer für alle drei packen. Es blieb keine Zeit darüber nachzudenken, was sie an persönlichen Gegenständen oder Erinnerungsstücken mitnehmen sollte. Auch die Flucht war eine extreme Herausforderung: Vier Tage lang reisten die drei mit Bus und Bahn durch das umkämpfte Land bis nach Niedersachsen. „Die Strapazen waren sowohl physisch als auch emotional sehr belastend.“ Auf der Flucht traf die Ukrainerin auf unzählige Frauen mit dem gleichen Ziel: Die Kinder vor dem Krieg in Sicherheit zu bringen.
In Deutschland leben inzwischen aktuell rund 1,1 Millionen ukrainische Geflüchtete, die Mehrheit von ihnen Frauen und Kinder. Rund 110 000 Flüchtlinge wurden in Niedersachsen aufgenommen. Eine aktuelle Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge belegt, dass die meisten Geflüchteten sich bei ihrer Ankunft willkommen fühlen und weitgehend gesund sind. Aber 69 Prozent der ukrainischen Geflüchteten machen sich große Sorgen um zurückgebliebene Angehörige und können diese Sorge mit niemandem teilen. 26 Prozent empfinden sich als einsam und leiden unter dem Verlust ihrer sozialen Netzwerke.
Oksana erging es ebenfalls so: In ihrer Heimatstadt arbeitete sie in der Tourismusbranche, sie hatte täglich Kundenkontakte und einen großen Bekanntenkreis. Außerdem lebte sie in der Nähe ihrer gesamten Verwandtschaft. Mit ihrer Flucht nach Deutschland wurde ihr gewohntes soziales Leben, von jetzt auf gleich ausgeknipst. Plötzlich gab es die vielen Begegnungen und Gespräche nicht mehr. Sie hatte zwar das Glück, in Hannover zunächst bei Bekannten wohnen zu können. Alte Freunde der Familie lebten seit einigen Jahren in der Landeshauptstadt und nahmen sie und ihre Söhne auf. Aber Oksana fühlte sich als Belastung in deren Arbeitsalltag. Und sie war ständig allein. Ihr älterer Sohn fand sofort einen Platz an einem Gymnasium, der Jüngere ging in den Kindergarten.
Oksana fehlte nicht nur ihr Mann, um den sie sich sehr sorgte. Ihr fehlte die vertraute Alltagsstruktur. Das Gefühl, nützlich zu sein. Sie hatte auch keine Ansprechpartner, mit denen sie ihre Ängste besprechen konnte. Ihr fehlten Menschen, die ihre Erfahrungen teilten. Dazu kam: Oksana spricht zwar Englisch, aber bei ihrer Ankunft sprach sie kein Deutsch. Die Sprachbarriere und das Fehlen von vertrauten Ansprechpartner*innen belasteten sie stark.
Die Schriftstellerin, Verlegerin und Übersetzerin Kateryna Mishchenko hat diesem Phänomen sogar ein aktuelles Buch gewidmet. „Aus dem Nebel des Krieges“ beschäftigt sich mit der Situation der Ukrainer*innen im Exil. Sie sagt: „Der neue Ort ist mehr als nur ein fremdes Land, denn wir Frauen und Kinder verlieren alle sozi- alen Kontakte und auch unsere Netzwerke. Diese Entfremdung ist eine ganz andere Form der Einsamkeit.“ Dieses Alleinsein ist gekoppelt mit der Angst um die verlorene Heimat.
Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Einsamkeitsgefühlen
Aber nicht nur unter Menschen mit Fluchterfahrungen oder Migrations- hintergrund ist das Thema Einsamkeit von Bedeutung. Es gibt unterschiedliche Studien und Umfragen, die sich mit dem Gefühl der Einsamkeit in der gesamtdeutschen Bevölkerung beschäftigen. Eine umfassende Studie zur Einsam- keit in Deutschland wurde beispielsweise von der Techniker Krankenkasse (TK) in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa durchgeführt. Laut dieser aktuellen Studie gaben rund 20 Prozent der Befrag- ten an, sich häufig oder sogar stän- dig einsam zu fühlen. Ergebnisse des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), der größten und am längsten laufenden multidisziplinären Langzeitstudie in Deutschland, zeigen, dass in den Jahren 2013 und 2017 ungefähr 14 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen zumindest manchmal einsam waren. Während der Corona-Pandemie zeigten verschiedene Studien einen deutlichen Anstieg von Einsamkeitsgefühlen in der Bevölkerung. So gaben 2021 rund 42 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen an, sich einsam zu fühlen. Überschlägt man die Ergebnisse dieser Studien, steht fest: Millionen Menschen in Deutschland fühlen sich inzwischen einsam.
Das Gefühl von Einsamkeit kann körperlich krank machen
Das Gefühl der Einsamkeit kann in jedem Alter und in jeder Lebenssituation entstehen. Und es kann krank machen: Zu den körperlichen Symptomen gehören Müdigkeit, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit und auch eine geschwächte Immunabwehr. Oksana beispielsweise nahm in den ersten Monaten in Deutschland über zehn Kilogramm ab – unfreiwillig, denn sie war schon vorher schlank. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BM- FSFJ) hat deshalb den Kampf gegen die Einsamkeit zu einem gesamtgesellschaftlichen Thema gemacht und verschiedene Maßnahmen ergriffen, um dem entgegenzuwirken und soziale Teilhabe zu fördern.
Oksana fand durch ein Angebot der AWO aus der Einsamkeit heraus
Die AWO hat etliche solcher Angebote bereits in ihrem Programm – und das nicht erst seit der strategischen Initiative der Bundesregierung. Oksana entdeckte über Facebook eine Gruppe für ukrainische Geflüchtete, die sich ein Mal pro Woche im Internationalen Elterntreff im Bunten Haus Mühlenberg traf. Ins Leben gerufen hatte dieses Treffen die AWO Mitarbeiterin Viktoria Podolskiy. Die 40-Jährige stammt ebenfalls aus der Ukraine, lebt aber bereits seit 1999 in Hannover. Sie ist hier zur Schule gegangen, hat hier studiert und koordiniert den Internationalen Elterntreff der AWO Region Hannover. „Als der Krieg angefangen hat, wusste ich sofort, dass ich etwas machen muss“, sagt sie. Ich spreche die Sprachen, ich habe diese räumlichen Ressourcen hier, ich kann Menschen helfen. Also habe ich diese Gruppe für ukrainische Geflüchtete organisiert.“ Die Gruppe wurde sofort gut angenommen, 15 Frauen kamen regelmäßig und brachten ihre Kinder mit. Größer durfte das Angebot wegen Corona nicht werden.
Oksana sagt, dass diese Gruppe für sie ein Glückfall war. Hier verstand man sie und sie konnte ohne sprachliche Missverständnisse die richtigen Informationen erhalten. Das Angebot umfasste Unterstützung im Alltag, Hilfe bei Formularen und Behörden- gängen. Es gab Bildungsangebote für Kinder wie beispielsweise Musikkurse und gemeinsame Unternehmungen. Viktoria organisierte einige Ausflüge, die Gruppe fuhr zum Vogelpark Walsrode und besuchte das Phaeno. Während die Kinder zusammen spielten, tauschten die Frauen sich aus. Über ihre Sorgen, gemeinsame Erfahrungen und hilfreiche Tipps. Oksana wohnt inzwischen in einer eigenen Zwei-Zimmer-Wohnung mit den beiden Söhnen. Sie arbeitet daran, ihr Deutsch immer weiter zu verbessern. Ob sie länger in Hannover bleibt, kann sie nicht sagen. Dafür müsste sie wissen, ob ihr Mann hierher kommen kann. Oksana macht überhaupt keine langfristigen Pläne mehr. Sie weiß zu genau, dass das Leben sich schnell und unvorhersehbar ändern kann. Aber sie fühlt sich mit diesem Gefühl nicht mehr allein, seit sie in der Gruppe andere Frauen mit ähnlicher Geschichte kennengelernt hat. Die Gruppe gibt es inzwischen nicht mehr, aber die Kontakte sind geblieben. Gemeinsam statt einsam: Oksana hat ein bisschen Heimat in der Fremde gefunden.
Text: Julia Meyer-Hermann
Fotos: Christian Degener/AWO