Torsten Döring, Diplom-Psychologe und Mitarbeiter der AWO Region Hannover

Wie entsteht Gewalt?

Magazin AWO ImPuls - Schwerpunkt Gewalt: Interview mit Torsten Döring, Diplom-Psychologe und Mitarbeiter der AWO Region Hannover

Region Hannover/ Hannover. Im Fokus der neuen Ausgabe unseres Magazins AWO ImPuls steht das Thema Gewalt in den unterschiedlichsten Formen. Wie Gewalt entsteht und warum Menschen Gewalt anwenden, darüber haben wir mit Torsten Döring gesprochen. Er ist Diplom-Psychologe und arbeitet seit mehr als 30 Jahren im Sprachheilbereich der AWO Kindertagesstätte Levester Straße. Darüber hinaus berät der 58-Jährige im pädagogisch-psychologischen Dienst der AWO Eltern und Mitarbeitende aus dem Fachbereich Kindertagesstätten zu Erziehungsfragen.

Warum wenden Menschen Gewalt an?

Gewalt als Konflikt­lösung ist kein Zeichen von Stärke, sondern entsteht meist aus einem Gefühl von Ohnmacht und Hilflosig­keit. Menschen die Gewalt aus- üben, fühlen sich in der Regel von anderen in ihren Bedürfnissen und Grenzen missachtet und versuchen, die Kontrolle zurückzugewinnen. Sie haben selber oft nicht erfahren, dass ihre Anliegen ernst genommen und bei der Suche nach Lösungen einbezogen werden. Sie weichen einer offenen Auseinandersetzung auf Augenhöhe lieber aus, weil sie Angst haben, als schwach zu gelten, sobald sie auf andere zugehen. Ihnen fehlt es grundlegend an Vertrauen und an positiven Erfahrungen, die sie darin bestärken, dass gemeinschaftlich gefundene Lösungen meist die nachhaltigsten sind.

Wie kann Gewalt vermieden werden?

Wer sich in seinen Beziehungserfahrungen respektiert und wertgeschätzt fühlt, hat meist kein Bedürfnis, Gewalt auszuüben. Menschen sollten von früher Kindheit an erleben, dass wichtige Bezugspersonen – in erster Linie ihre Eltern – achtungsvoll mit ihnen umgehen. Diese Erfahrung vermittelt sich in unzähligen Aushandlungsprozessen im Alltag, wenn Menschen mit ihren unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen aufeinandertreffen. Ein respektvoller Umgang mit Kindern bedeutet dabei keineswegs, dass man Kindern keine Grenzen setzen darf. Ein recht häufiges Miss­verständnis, das zu vielen Verunsicherungen und Problemen führt.

Wie funktioniert das im Alltag?

Kinder brauchen Orientierung. Sie brauchen einerseits starke und konfrontationsbereite Eltern. Andererseits aber auch Eltern, die hinhören können und interessiert daran sind, wie es ihrem Kind geht, was ihm wichtig ist und was es braucht. Eltern, die nicht über den Kopf des Kindes entscheiden, sondern sich mit ihrem Kind über die verschiedenen Belange, Ansprüche und Bedürfnisse auseinandersetzen. Am besten so, dass das Kind ermutigt wird, zu sagen, worum es ihm geht, aber auch so, dass es versteht, worum es den anderen Beteiligten geht. Das ist kein Widerspruch. Kinder müssen nicht alles gut finden. Sie sollten aber unsere Überlegungen nachvollziehen können und grundsätzlich erleben, dass sie an vielen Stellen in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden und auch selber Entscheidungen treffen dürfen. Kinder, die sich von anderen verstanden fühlen, zeigen eine wesentlich größere Bereitschaft anderen zuzuhören und Regeln zu akzeptieren, die sich nicht alleine an ihrem Wohlbefinden ausrichten. Eine entscheidende Grundlage für die Entwicklung einer von gegenseitigem Respekt geprägten Haltung. Das Ziel unseres pädagogischen Handelns: Kinder sollten sich in der Welt, die wir mit ihnen gestalten, gestärkt fühlen und die Erfahrung machen, dass es sich lohnt, sich für seine Belange einzusetzen. Sie sollen erleben, dass Gewalt zur Durchsetzung von Interessen keinen Sinn macht. Nicht, weil es verboten ist, sondern, weil es in der Regel mehr Schaden als Nutzen anrichtet.

Gewaltfreies Handeln ist also erlernbar?

Partizipation, also die Teilhabe an Entscheidungsprozessen, ist ein wichtiges Erziehungsziel in unseren Kindertagesstätten. Wenn Kinder frühzeitig lernen, ihre Interessen zu vertreten und durch gemeinsame Aushandlungsprozesse mit anderen Kindern und Erwachsenen Lösungen für ihre Bedürfnisse zu finden und diese konstruktiv mit den Bedarfen anderer zu verknüpfen, besteht gar keine Notwendigkeit mehr, Gewalt auszuüben. Kinder entwickeln so von klein auf demokratische Umgangsformen, die sie nach und nach verinnerlichen.

Was brauchen Kinder?

Das mag banal klingen – ist aber eigentlich ganz einfach. Kinder brauchen Bezugspersonen, die verstanden haben, wie eine wertschätzende Beziehung funktioniert. Menschen, die an ihnen interessiert sind, sie ernstnehmen, die sich mit ihnen auseinandersetzen und sie als gleichwertige Partner ansehen. Das ist vor allen Dingen eine Frage der Haltung, mit der wir Erwachsenen den Kindern im Alltag begegnen. Aber natürlich auch eine Frage des Umfeldes, das durch seine Abläufe, Regeln und Freiräume ganz wesentlich beeinflusst, ob sich Kinder eingeengt oder selbstwirksam erleben. Auf diesem Nährboden können sich soziale Kompetenzen, wie zum Beispiel Einfühlungs- vermögen, die Fähigkeit eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und anderen gegenüber zu artikulieren oder die Bereitschaft, sich zurückzunehmen und die Bedürfnisse anderer Menschen zu respektieren, gut entwickeln.

Wie werden diese Erkenntnisse im Kita-Alltag umgesetzt?

In der Konzeption jeder Einrichtung sind inzwischen Vorgaben zur Partizipation, also der Beteiligung von Kindern an Entscheidungen und Möglichkeiten der Beschwerde, fest verankert. Kinder werden aktiv in Entscheidungsprozesse eingebunden und lernen verschiedene Möglichkeiten kennen, ihre Anliegen und Befindlichkeiten auszudrücken.

Wie werden die Kinder dabei unterstützt?

Wenn sich Kinder um Spielzeug streiten, sich beim Toben oder Kämpfen weh tun, sich ungerecht behandelt oder unverstanden fühlen, dann können sie auf unser Verständnis, unseren Trost und un- seren Schutz zählen. Auf der Suche nach Lösungen unterstützen wir die Kinder, kommentieren was passiert, passen auf, dass es allen gut geht und fordern die Kinder auf, am Ball zu bleiben. In einem Konflikt gilt die Wertschätzung der Erwachsenen beiden Seiten. Alle Beteiligten haben den berechtigten Anspruch, ernst genommen und unterstützt zu werden. Daraus ergibt sich eine Verantwortung, der sich kein Kon- fliktpartner entziehen kann und die in der Haltung der Fachkräfte einen festen Platz hat. Kinder erleben uns daher nicht nur anteilnehmend und Trost spendend, sondern auch durchaus fordernd, wenn es darum geht, Lösungen zu verhandeln, die für beide Seiten tragbar sind. Die vielen Stolperfallen, Konflikte und kleinen Katastrophen im Alltag eines Kindes sind vor diesem Hintergrund kein Störfeuer, das es zu vermeiden gilt, sondern hoch willkommene Herausforderungen, an denen Kinder mit unserer Unterstützung entscheidende Kompetenzen entwickeln und zu selbstbewussten und verantwortungsbereiten Menschen heranwachsen. So wie wir stolpern müssen, um unsere sensomotorischen Fähigkeiten entwickeln zu können, müssen wir in den Auseinandersetzungen mit anderen Menschen unsere sozialen Fähigkeiten ausbilden und verfeinern.

Warum sind Männer überproportional häufig Gewalttäter?

Im Rollenverständnis von Männern hat es nach wie vor einen hohen Stellenwert, als stark und kompetent wahrgenommen zu werden. Männer rechnen in Phasen von Selbstzweifeln und Unsicherheiten eher mit Abwertung und Zurückweisung, als die meisten Frauen. Aus der erlebten Scham und dem wahrgenommenen Kontrollverlust entsteht bei einigen Männern das Bedürfnis danach, die Kontrolle wiederzuerlangen. Dieser Zusammenhang spielt bei der Gewalt von Männern gegen- über Frauen eine große Rolle, aber auch in der zunehmenden Gewaltbereitschaft, die wir in der politischen Auseinandersetzung und vor allem im Schutz der Anonymität in sozialen Medien beobachten können. Dieser Zusammenhang hat zwar einen männerspezifischen Aspekt, gilt aber ebenso bei Frauen. Das Erleben von Ohnmacht und Hilflosigkeit verstärkt generell das Bedürfnis, sich mächtiger fühlen zu wollen. Wenn schon nicht im richtigen Leben, so doch wenigstens in der Phantasie oder in vermeintlich geschützten Räumen oder zumindest Personen gegenüber, denen man sich überlegen fühlt. Es ist ein Irrglaube, davon auszugehen, dass dies bei Frauen anders ist. Gewalt, die von Frauen ausgeht, ist in der Regel nur etwas subtiler und eher im Verborgenen als bei Männern. All dies unterstreicht die Wichtigkeit der hier skizzierten Haltung im Umgang mit Kindern. Wer Antworten auf eine zunehmende Gewaltbereitschaft sucht, darf sich nicht auf das Verbot und die Ahndung von Gewalttaten beschränken. Viel sinnvoller ist es, den fatalen Kreislauf aus Ohnmachtserleben und dem kompensierenden Kontrollbedürfnis dort zu unterbrechen,
wo Menschen ihre eigene Haltungen im Umgang mit anderen erwerben oder eben auch manchmal erleiden.

Foto: Christian Degener/ AWO

Die gesamte neue Ausgabe der AWO ImPuls mit dem Schwerpunktthema Gewalt können Sie hier online lesen: https://bit.ly/30vvBD6.

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