Region Hannover/ Hannover. „Wir hatten ein tolles Leben in Kiew“, sagt Natalia. Die 44-Jährige ist am 12. März vor dem russischen Krieg aus der Ukraine geflohen und von einer Familie in Hannover aufgenommen worden. Derzeit nimmt sie mit 16 weiteren Ukrainerinnen am Kurs “Migrantinnen einfach stark im Alltag“ – kurz: MiA – der AWO Region Hannover im Wohnprojekt Salzmannstraße in Linden teil. In dem Kurs wird sie von Leiterin Svitlana Kadaner über das Schul-, Bildungs- und Berufssystem informiert, an die deutsche Sprache herangeführt und zum Sprechen und zum Austausch ermutigt. Der Kurs wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefördert.
Natalia ist mit ihrer 16-Jährigen Tochter nach Deutschland geflohen, die jetzt ein Gymnasium besucht. In Kiew hat sie in einer Werbeagentur gearbeitet, die Aufträge von Unternehmen aus der ganzen Welt bekam – Natalia hat gut verdient und Urlaube in Frankreich und Ägypten geplant. Dann fielen die Bomben, ihre Agentur musste schließen. „Vor dem Krieg war alles in Ordnung – jetzt ist alles anders“, sagt sie und ihr ist die Wut und Trauer anzumerken.
Vor dem Krieg sei Russland zwar wegen der Krim-Annexion zwar auch schon nicht beliebt gewesen, jetzt sei die Stimmung der Menschen in Kiew aber endgültig gekippt. Der Krieg habe so viel Zerstörung in ihre Heimat gebracht, Freunde und Bekannte von ihr seien getötet worden. Der Krieg habe den Unabhängigkeitswillen ihrer Landsleute gestärkt – und den Wunsch, zur EU zu gehören.
„Wir können es immer noch nicht glauben. Wir dachten, so etwas kann niemals passieren“, sagt auch Kursleiterin Kadaner. Sie stammt selbst aus der Ukraine und spricht russisch und ukrainisch. In ihrem Herkunftsland war sie Mathelehrerin, hier unterrichtet sie MiA-Kurse, aber auch Computerkurse für Anfänger*innen. Der Krieg sei gerade auch wegen der gemeinsamen Vergangenheit mit Russland in der Sowjetunion für viele Familien sehr schwer. Viele der Kursteilnehmerinnen hätten familiäre oder freundschaftliche Verbindungen zu Russ*innen – einige auch zu Menschen in den von Russland besetzen Gebieten. „Wir klammern Politik in den Kurstreffen aus – wir sprechen über Dinge, die sie jetzt hier in Hannover benötigen“, betont Kadaner.
An diesem Vormittag fertigt sie mit den Frauen Collagen aus Zeitschriften und Zeitungen an, die sie mitgebracht hat. Die Themen sind „Kleidung“, „Familie“, „Einkaufen“ und „Ich esse“. Die größte Herausforderung für die Teilnehmerinnen sei die deutsche Sprache. „Die Alphabetisierung steht dabei am Anfang, da das deutsche Alphabet ein anderes ist als das ukrainische und russische.“ Ansonsten kommen viele Fragen zum Alltag auf. Wie funktioniert der ÖPNV in Hannover, welche Einkaufsmöglichkeiten gibt es und wo, was ist bei Arztbesuchen zu beachten – bei Fragen wie diesen werden auch schon die ersten Wörter gelernt. Insgesamt 34 Stunden umfasst der Kurs, die Treffen finden zwei Mal wöchentlich vier Stunden statt. „Ziel ist es, für die ukrainischen Frauen eine Art Überbrückung bis zum Beginn von Integrationskursen zu schaffen“, erklärt Kadaner. Zumindest für die Frauen, die davon ausgehen, dass sie nicht so schnell in die Ukraine zurückkehren können.
Eine von ihnen ist Elena. Die 37-jährige stammt aus der Ostukraine, worauf sich die russische Invasion gerade konzentriert. Ihr Dorf sei bombardiert, Schulen und Wohnhäuser zerstört worden. Es ist nicht abzusehen, ob und wann sie zurückkehren kann. „Ich möchte Deutsch lernen, mich integrieren und hier arbeiten“, sagt sie. In der Ukraine hat sie ein Café gemanagt.
Elena und Natalia sind dankbar für die Unterstützung, die sie in Deutschland bekommen. Und vor allem auch den Familien, die sie aufgenommen haben. „Sie helfen uns so sehr“, sagt Natalia. Für sie steht fest, dass sie so schnell wie möglich in ihr altes Leben zurückkehren möchte. „Ich warte, bis es dort sicherer wird, dann möchte ich wieder nach Hause.“
Zum Hintergrund:
Die AWO bietet seit mehr als 30 Jahren MiA-Kurse an – in diesem Jahr sind es insgesamt 16. Sechs zusätzliche Kurse wurden jetzt für ukrainische Frauen bewilligt, die im Wohnprojekt Salzmannstraße und in der neuen AWO-Flüchtlingsunterkunft Grünewaldstraße stattfinden werden.
Text & Foto: Christian Degener/AWO