Hannover/Hainholz. „Der Betrieb läuft und er läuft den Umständen entsprechend gut“, berichtet Tanja Holzheimer, Leiterin des Carré Spierenweg der AWO Region Hannover. In der Jugendhilfeeinrichtung im Stadtteil Hainholz leben zurzeit 14 alleinerziehende Mütter und zwei Väter mit ihren Kindern. Doch hat sich das Leben für die Bewohnerinnen und Bewohner und auch für die Mitarbeitenden in Zeiten der Corona-Pandemie stark verändert.
So wurde der Dienstplan dahingehend umgestaltet, dass nur so viele Mitarbeiter wie nötig gleichzeitig in der Einrichtung sind. „Es ist ein Ineinandergreifen der Dienstzeiten wie die Glieder einer Kette und da wir 24 Stunden an sieben Tagen abdecken, verlangt das von allen eine Menge Disziplin ab“, sagt Holzheimer. Das betreffe natürlich auch die Familien.
Für die Familien hat das Team einen alternativen wöchentlichen Gruppenplan organisiert. Statt der in normalen Zeiten angebotenen Aktionen wie Kochen, Elterncafé, Babycafé, Elterngesprächskreis oder Hausversammlungen und Ausflüge gibt es nun „Elterncafé to go“, „Küchenfenster-Bilderbingo“, „das Team kocht Suppe für alle Familien“, „sozial distanzierte Schatzsuche“ „Pizza zum Abholen“, „Osterbrunch to go“ und „Einzelförderung von Schulkindern“. Die Angebote seien wichtig für die Familien, denn sie dienten der Strukturierung des Tages- und Wochenablaufes, so Holzheimer. Das Beschäftigen allein mit den Kindern zu Hause stelle eine große Herausforderung für sie dar und erfordere eine ständige Motivation und Anleitung durch das Team – auch aus der Distanz heraus. „Der Gruppenplan erfreut sich wachsender Beliebtheit und soll den Familien vermitteln, dass wir weiterhin immer für sie da sind und ihnen in dieser Zeit auch etwas Gutes tun wollen“, erklärt Holzheimer.
Diese Woche wurde mit der Verteilung von frisch gekochten „Bärlauch-Pesto-Spaghetti“ und einem „Küchenfenster-Bilderbingo“ gestartet. So sind die Mütter und Väter einzeln mit einem Topf vorbeigekommen und haben sich das Essen abgeholt. Beim „Küchenfenster-Bilderbingo“ hat sich AWO Mitarbeiterin Isabelle Kischel in die Mitte des Rondells gestellt. Alle, die mitmachen wollten, haben aus dem Fenster geschaut. Bingokarten wurden in die Briefkästen verteilt und „das Event“ im Vorfeld auf dem ausgehängten Plan angekündigt. Sogar andere Nachbarn im Spierenweg hätten aus dem Fenster geschaut und wollten mitmachen, erzählt Holzheimer. Das sei ein nachbarschaftliches Miteinander der anderen Art.
Holzheimer ist überrascht, wie unaufgeregt alle sich mittlerweile an die Regeln und Vorgaben halten. „Die Stimmung unter den Familien ist den Umständen entsprechend vielleicht ein wenig gedrückt, so wie bei uns allen“, sagt Holzheimer. Alle hielten sich tapfer an die Vorgaben. Gerade bei den oft hochbelasteten Familien sei es zunächst ein Schock gewesen: keine Krippe mehr, keine Kita mehr, keine Schule und dann fielen auch noch die normalen Gruppenangebote weg. Mittlerweile sei eine Atmosphäre der Ruhe und des gegenseitigen Verstehens entstanden, die so vorher nie da war. Eine für die Arbeit so wichtige Beziehungsebene aufrecht zu erhalten, wenn die Kinder nicht mehr auf den Arm der Betreuerinnen dürfen und die Mütter und Väter zwei Meter Abstand halten sollen, sei nicht einfach. „Unsere Bezugsbetreuung läuft selbstverständlich – etwas weniger intensiv als gewohnt – weiter“, betont Holzheimer. „Wir machen Hausbesuche, wo sie notwendig sind, haben sozial distanzierte Gesprächstermine und versuchen, allen Bedürfnissen so gut es geht – und unter Einhaltung aller Vorgaben – gerecht zu werden.“ Keine der Familien werde alleine gelassen. „Die nächsten Wochen werden zeigen, inwieweit wir es schaffen, unsere Familien unter diesen Umständen stabil zu halten.“
Dennoch hat Holzheimer das Gefühl, dass gerade eine andere Art des Verständnisses der Familien füreinander und untereinander entsteht. Der einzelne nehme sich nicht mehr so wichtig. „Das ist in unserer Arbeit nicht an der Tagesordnung“, so Holzheimer. Natürlich müsste hin und wieder interveniert werde, so gab es einen nächtlichen Notarzteinsatz, aufgrund einer Panikattacke einer Mutter, aber insgesamt sei die Lage ruhig.
Krisen hat Holzheimer in 20 Jahren stationärer Jugendhilfe schon viele erlebt. Doch die Corona-Krise sei ein Ausnahmezustand ohne Beispiel. Diese Situation verlange vom Einzelnen, vom Team und von den Familien eine Menge ab. „Sie bietet aber auch eine große Chance für die Gemeinschaft, für die Solidarität und Toleranz untereinander, für das ‚sich nicht so wichtig nehmen‘, für das Geben ohne Hintergedanken“, sagt Holzheimer. „Ich habe die Hoffnung, dass etwas davon in die Zeit nach der Krise gerettet werden kann. Das wäre wirklich schön.“
Zum Hintergrund
Das Carré Spierenweg der AWO Region Hannover ist eine Jugendhilfeeinrichtung und bietet 18 Plätze für alleinerziehende Mütter und Väter und ihre Kinder. Grundlage ist der Paragraf 19 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Es stehen 16 in sich abgeschlossene Zwei– und Drei-Zimmerwohnungen in einer Größe von 46 bis 62 Quadratmeter sowie zwei Außenwohnungen im Stadtgebiet Hannover zur Verfügung. Die Wohndauer und Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner richtet sich nach den individuellen Bedürfnissen.