"Vielfalt wird oft nur symbolisch gefeiert, indem Unternehmen am Diversity-Tag Menschen für ein Foto einladen und danach wieder wegschicken."

„Etwas beitragen und verändern können“

Interview mit Ercan Carikci

Region Hannover/ Hannover. Ercan Carikci war als Referent beim Fachtag zur rassismuskritischen Bildung der AWO Region Hannover und des AWO Jugendwerks tätig. Seit 2009 arbeitet er als freiberuflicher Coach und Berater in den Bereichen Empowerment und Rassismuskritik tätig. 2023 erschien sein Buch “Deprivilegiert Uns!: Rassismus erkennen, verstehen und überwinden”, in dem er seine umfangreichen Erfahrungen und Perspektiven zur Bekämpfung von Rassismus auf individueller und gesellschaftlicher Ebene weitergibt.  Im Interview spricht Ercan Carikci über die Bedeutung von Vielfalt und Inklusion in der Gesellschaft und wie wir diese Werte aktiv fördern können.

Was bedeutet Vielfalt und Inklusion in unserer Gesellschaft?

Vielfalt ist ein fundamentaler Wert, den uns unsere Demokratie als integralen Bestandteil vermittelt. Es ist essenziell, dass wir Demokratie nicht als etwas Äußeres betrachten, sondern als etwas, das in jedem von uns stattfindet. Besonders wenn demokratische Werte bedroht sind, müssen wir pro-aktiv für Vielfalt eintreten. Vielfalt ist eine der Säulen unseres Zusammenlebens, besonders in Bildungseinrichtungen wie Kindertagesstätten und Schulen. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir diese Säule schützen müssen, um wirkliche Vielfalt zu bewahren und zu leben.

Ein häufiges Problem ist, dass Vielfalt oft nur symbolisch gefeiert wird, etwa durch Social-Media-Aktionen von Unternehmen am Diversity-Tag. Dabei werden Menschen für ein Foto eingeladen und danach wieder weggeschickt. In der Diskriminierungskritik nennt man das Tokenismus, also symbolische, aber oberflächliche Anstrengungen, um Vielfalt zu zeigen.

Inklusion bedeutet, im Alltag aktiv darüber nachzudenken, wie wir Menschen einbeziehen und ihnen gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen können. Das erfordert auch, die Unterschiede zwischen Integration und Inklusion genauer zu betrachten: Während Integration oft bedeutet, dass Menschen in bestehende Strukturen aufgenommen werden, zielt Inklusion darauf ab, diese Strukturen von Anfang an so zu gestalten, dass alle Menschen selbstverständlich dazugehören. Insbesondere in einer Zeit, in der Personen aus bestimmten Parteien fordern, behinderte Kinder oder Jugendliche aus den Schulen auszuschließen. Das ist der Anfang vom Ende der Vielfalt und Inklusion und muss gestoppt werden.

Welche praktischen Werkzeuge und Ansätze nutzen Sie, um Menschen zu befähigen, sich bewusst für Vielfalt einzusetzen – für Kinder und junge Menschen und für die pädagogischen Fachkräfte?

Wir arbeiten an Schulen und konzipieren Ganztagsangebote mit Modulen wie Anti-Mobbing-Training, Anti-Diskriminierung und sportlichen Aktivitäten, die Verantwortung und Haltung fördern. Es ist wichtig, die Kinder und Jugendlichen einzubeziehen und ihre Meinungen und Wünsche zu berücksichtigen. Leider gibt es viele Projekte, die an den Bedürfnissen der jungen Menschen vorbeigehen, weil sie vorher nicht gefragt wurden, was sie tatsächlich brauchen und wollen.

Pädagogische Fachkräfte haben sehr viel zu tun und benötigen Unterstützung. Hier muss auch die Politik Entscheidungen treffen, um Schulen und Kitas weiter zu öffnen. Expert*innen aus verschiedenen Bereichen, einschließlich älterer Menschen und Menschen mit Flucht- oder Suchterfahrungen, sollten einbezogen werden, um die Lehrkräfte und Erzieher*innen zu unterstützen. Diese Personen bringen oft einen reichen Erfahrungsschatz und eine besondere Resilienz mit, die für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen von großem Wert sein können.

Welche Rolle spielen Bildungseinrichtungen und Unternehmen wie die AWO bei der Förderung von Vielfalt?

Die Bedeutung von Bildungseinrichtungen und Organisationen wie der AWO ist immens. Sie sind die Säulen unserer Gesellschaft und verdienen mehr Anerkennung, Ressourcen und Unterstützung von der Politik und der Wirtschaft. Pädagogische Fachkräfte, Lehrer*innen und Erzieher*innen brauchen mehr Wertschätzung und Unterstützung, um ihre wichtige Arbeit nachhaltig leisten zu können und nicht in Erschöpfungszustände zu geraten.

Was sollen die Teilnehmenden aus dem heutigen Fachtag mitnehmen, was ist Ihr Ziel?

Mir sind drei Punkte besonders wichtig: Erstens eine offene Fragekultur – die Teilnehmenden sollen das Gefühl haben, jede Frage stellen zu können, ohne dass jemand die Augenbrauen hochzieht. Trainer*innen in meinem Betrieb lehren in dieser Lernkultur der Fehlerfreundlichkeit. Zweitens die Selbstwirksamkeit, also die innere Überzeugung zu haben, schwierige oder herausfordernde Situationen gut meistern zu können – und zwar aus eigener Kraft. Die Teilnehmenden sollen das Gefühl haben, etwas beitragen und verändern zu können. Es ist wichtig, dass sie sensibilisiert werden, darüber nachzudenken, wie sie bei Diskriminierung oder Angriffen aktiv eingreifen können, ohne sich selber in Gefahr zu bringen. Dritter Punkt ein stärkeres Bewusstsein für Demokratie und Vielfalt zu entwickeln. Die Teilnehmenden sollen erkennen, dass Demokratie, Vielfalt, Freiheit und Offenheit nicht selbstverständlich sind. Insbesondere in Krisenzeiten und angesichts des Rechtsrucks müssen wir diese Werte täglich sichern.

Mit welchem Blick schauen Sie in die Zukunft – insbesondere hinsichtlich der rechten Tendenzen – als jemand, der sich täglich mit dem Thema auseinandersetzt. Mit Optimusmus?

Ich denke weniger über Optimismus nach, sondern mehr über Zuversicht. Optimismus strebt oft nach dem bestmöglichen Ergebnis, während Zuversicht bedeutet, auf unsere Fähigkeit zu vertrauen, auch schwierige Situationen zu bewältigen. In unseren Seminaren und unserer Arbeit geht es darum, diese innere Stärke zu fördern. Es fällt mir relativ leicht, Zuversicht zu erzeugen, weil ich sehe, dass mein Team und ich jeden Tag gebraucht werden. Zuversicht ist für mich eine Umgangsform, eine Energieform und eine Gedankenform, die wir trainieren müssen.

Gleichzeitig sollten wir die Macht der Kränkung nicht unterschätzen. Kränkungen gehen tief und können heftige Reaktionen hervorrufen – das ist uns häufig gar nicht bewusst. Nichts sollte als selbstverständlich angesehen werden, insbesondere nicht der Frieden auf der Welt. Frieden gilt es aktiv zu bewahren und zu schützen. Die Wissenschaft zeigt, dass es immer einen Teil der Bevölkerung gibt, den wir nicht zurückgewinnen können. Aber mit einer Kultur der Fehlerfreundlichkeit und dem Miteinander können wir viel erreichen.

Wir dürfen nicht zulassen, dass antidemokratische Kräfte unser Land verändern. Demokratiefeindliche Ziele, wie sie von einigen Personen offen geäußert werden, müssen wir klar ablehnen und aktiv stoppen.

Interview: Gaby Kujawa/AWO, Foto: Christian Degener/AWO

"Vielfalt wird oft nur symbolisch gefeiert, indem Unternehmen am Diversity-Tag Menschen für ein Foto einladen und danach wieder wegschicken."

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Christian Degener
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