Im Fokus der aktuellen Ausgabe unseres Magazins AWO ImPuls steht das Thema Schulvermeidung. Warum Anna Friedrichs (*Name von der Redaktion geändert) nicht mehr in die Schule gehen wollte und wie ihr die AWO geholfen hat, beschreibt die Journalistin Julia Meyer-Hermann in der Titelreportage, die Ihr hier lesen könnt:
Allein der Gedanke an den Montagmorgen bereitete ihr Bauchschmerzen. Es war immer dasselbe. Freitagnachmittag, wenn Anna Friedrichs (*Name von der Redaktion geändert) in ihrem Zimmer auf dem Bett saß und las, war noch alles in Ordnung. Aber nur ein paar Stunden später begann das Unwohlsein, sobald sie auch nur kurz an die Schule dachte. Es fing an als leichtes Flattern in der Körpermitte, wurde im Laufe des Wochenendes stärker. Irgendwann fühlte die 12-Jährige sich so, als hätte sie einen Mageninfekt, oft kamen dann noch Kopfschmerzen dazu. Spätestens am Montag um halb acht war klar: Anna würde nicht in die Schule gehen können. Auf keinen Fall! Die Mutter rief im Sekretariat an und entschuldigte ihre Tochter. „Ja, Anna ist wieder krank“, sagte sie. Oder: „Anna ist immer noch krank“.
Was sollte sie auch tun? Sollte sie Anna etwa zwingen? Der ging es schließlich erkennbar schlecht. Die körperlichen Ursachen hatte die alleinerziehende Mutter von drei Kindern längst medizinisch abklären lassen: Physisch war Anna gesund. Aber sie verkroch sich in ihrem Zimmer, sobald sie zur Schule sollte. Das war keine Phase, es war der Normalzustand. Ab und an gab es zwischendurch noch ein oder zwei Tage, an denen sie blass und leise aus dem Haus schlich und zum Unterricht ging. „Aber je öfter ich gefehlt habe, desto schwieriger wurde es dann, sich zur Schule aufzuraffen“, sagt Anna. „Die Mitschüler machten Kommentare, wo ich denn wieder gewesen sei. Ich fühlte mich schrecklich allein. Ich konnte dem Unterricht auch nicht mehr richtig folgen, weil ich einfach zu viel verpasst hatte.“ Anna Friedrichs ist heute 24 Jahre alt. Aber an das Gefühl in ihrer Jugendzeit kann sie sich noch gut erinnern – und auch daran, wohin es letztendlich führte „Irgendwann bin ich einfach gar nicht mehr zur Schule gegangen.“
Viele Schulverweigerer haben Angst, weil sie Mobbing oder Probleme mit Lehrkräften erlebt haben.
Wenn sie heute darüber nachdenkt und davon erzählt, wie es so weit kommen konnte, fällt rasch das Wort „Überforderung“. Anna Friedrichs ist die Älteste von drei Geschwistern. Als sie gerade aufs Gymnasium kam, trennten ihre Eltern sich. „Mein Vater war schwer alkoholkrank.“ Die Mutter musste viel arbeiten, Anna kümmerte sich oft um die jüngeren Geschwister. An der Schule fand sie keinen richtigen Anschluss: Die Themen und Gespräche ihrer Mitschüler entsprachen nicht ihrer Lebenswelt. Das Gefühl, dort abgelehnt zu werden, war letztendlich der Punkt, der einfach zu viel für sie war. „Ich habe dann einen Weg gewählt, um wenigstens dieser Schwierigkeit aus dem Weg zu gehen.“
„Anna war damals in einer Situation, in der sie ihre Belastung nicht mehr aushalten konnte. Die Schulvermeidung hat sie zunächst vor einer weiteren Überforderung bewahrt“, sagt Thomas Thor. Der Sozialpädagoge ist Leiter der „Fachstelle Schulvermeidung“ der AWO Region Hannover. Er sagt: „Letztendlich hat Anna nicht rechtzeitig die nötige Unterstützung bekommen und ist in eine Abwärtsspirale geraten.“ Thomas Thor kennt viele solcher Fälle und Geschichten. Wenn man ihn zum Interview trifft, klärt er zunächst auf über den Unterschied zwischen den Phänomenen des „Schulschwänzens“ oder auch „Blaumachens“ und dem Thema der „Schulvermeidung“ beziehungsweise des „pathologischen Schulabsentismus“. „Beim Schulschwänzen geht es vorrangig um die lustvolle Komponente. Man will sich Freizeit verschaffen“, erklärt er. Bei der Schulverweigerung sind die Ursachen oft ganz anders gelagert, häufig sind sie psychisch begründet: Die Kinder und Jugendlichen haben beispielsweise Angst vor der Schule, weil sie Mobbing, Stress durch Leistungsdruck oder Probleme mit Lehrkräften erlebt haben. Aber auch psychische Erkrankungen wie Depressionen oder ein instabiles Elternhaus sind oftmals Gründe für Schuldistanz. „Vordergründig kann es manchmal so aussehen, als ob jemand einfach keinen Bock auf Schule hat, aber hinter so einer radikalen Null-Bock-Haltung und Verweigerung kann sich auch eine Depression oder Angststörung verstecken.“
Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss nimmt kontinuierlich zu, die der Schulverweigerer ebenfalls.
Thomas Thor und die Mitarbeitenden der Fachstelle versuchen mit verschiedenen Angeboten, diese Schulvermeider*innen rechtzeitig zu unterstützen und wieder in eine stabile Alltagsstruktur hineinzuführen. Gelingt das nämlich nicht, sind die Folgen für sie oft verheerend. Laut einer aktuellen Studie der „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ steigt die Zahl der Schülerinnen und Schüler in Deutschland, die ohne Abschluss die Schule verlassen. 2021 lag die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss laut OECD bei inzwischen 14 Prozent, 2014 traf das noch auf 5,8 Prozent zu. „Der zunehmende Anteil von Personen ohne allgemeinbildenden Bildungsabschluss in der Bevölkerung verschlechtert für sie und ihre Kinder langfristig die Lebensperspektiven“, heißt es in dem Bericht. Dass es dabei auch einen direkten Zusammenhang zum zunehmenden Schulabsentismus gibt, liegt nahe.
Anna Friedrichs kennt die Gefahr aus eigener Erfahrung: Sie hat einige Zeugnisse erhalten, in denen mehrere Fächer ganz einfach nicht benotet werden konnten. „Ich habe zu viele Stunden gefehlt, als dass man mich hätte beurteilen können“, sagt sie. In den übrigen Fächern, die benotet werden konnten, entsprachen ihre Leistungen bei weitem nicht ihrer Intelligenz: Anna Friedrichs ist überdurchschnittlich begabt, das wurde in einigen außerschulischen Tests festgestellt. „Aber das hilft irgendwann auch nicht mehr, wenn man nie da ist.“ Sie sagt heute, dass sie sich damals zwar aus der Schule zurückgezogen habe, um sich zu schützen. „Aber im Nachhinein sehe ich, dass dieses Verhalten alles verschlimmert hat. Ich war sozial in der Klassengemeinschaft isoliert und außerdem das Kind, das nicht mithalten konnte.“
Zwischen drei und acht Prozent eines Jahrgangs schwänzen regelmäßig die Schule. Bei einigen geht das bereits in der Grundschule los.
Wie vielen Kindern und Jugendlichen es so geht wie Anna, wie viele immer wieder oder auch dauerhaft dem Unterricht fernbleiben, lässt sich nicht eindeutig sagen. Die Dunkelziffer ist hoch, das gilt für Deutschland und auch für die Region Hannover. Kleine stichprobenartige Umfragen bei Landkreisen und kreisfreien Städten haben ergeben, dass die Zahl der Fälle kontinuierlich ansteigt, bei denen die Behörden wegen Schulpflichtverletzungen ein Ordnungswidrigkeitsverfahren einleiten. Der Sozialpädagoge Thomas Thor beobachtet die Entwicklung seit inzwischen gut 20 Jahren. Im Jahr 2000 gründete der gebürtige Hannoveraner für die AWO die erste Beratungsstelle, unterstützt mit Mitteln der Stadt. Weil der Bedarf wächst, ist sein Team seitdem kontinuierlich gewachsen: Thor hat inzwischen sieben hauptamtliche Mitarbeitende und zwei Honorarkräfte. Manchmal werden die Schulschwänzer von Lehrer*innen zu ihnen vermittelt, manchmal treten die Familien an sie heran, manchmal schaltet sich das Jugendamt ein. „Zwischen drei und acht Prozent eines Jahrgangs schwänzen regelmäßig die Schule“, sagt der Sozialarbeiter. „Meistens beginnt das mit der Pubertät, aber bei einigen geht das bereits in der Grundschule los. Das Problem betrifft bei weitem nicht nur die sogenannten bildungsfernen Schichten. Das gibt es auch in reichen Arzt-Familien.“ In letzter Zeit beobachtet er häufig, dass es zwischen Eltern und Kindern einen unguten Rollentausch gibt. Ein Junge, der vom Jugendamt in seine Beratung vermittelt wurde, traute sich beispielsweise nicht, die Mutter allein zu lassen. Er hatte als kleines Kind mitbekommen, wie die Mutter vom Vater geschlagen wurde. Die Eltern hatten sich zwar getrennt, aber der Vater lebte nach wie vor in der Nachbarschaft. „Der Junge hatte das Gefühl, dass er seine Mutter beschützen musste und ist nicht mehr zur Schule gegangen.“
Thomas Thor und sein Team begleiten derzeit rund 150 Familien, betreuen drei verschiedene Projekte. Zentrale Fragen sind immer: Was hilft den Kindern und Jugendlichen dabei, wieder regelmäßig zur Schule zu gehen? Welche Unterstützung brauchen diejenigen, die komplett verweigern? „Glashütte“ beispielsweise ist ein außerschulischer Lernort, den Jugendliche im Alter von 13 bis 17 Jahren besuchen können. Die Teenager, die hierhin kommen, vermeiden oder verweigern den Schulbesuch schon lange wegen negativer Erfahrungen und großen Ängsten. In der „Glashütte“ geht es darum, dass diese Teenager in einem angstfreien Raum wieder anfangen können, mit anderen zu interagieren. Sie sollen lernen, eine Tagesstruktur zu etablieren. Einige von ihnen hatten lange Zeit keine Außenkontakte, waren nur online im Dialog mit anderen. Das hat sie oft zusätzlich gestresst, bestimmten Social-Media-Standards entsprechen zu müssen. „Der Druck ist hier viel weniger groß, der Rahmen nicht so bedrohlich. Wenn sie um neun Uhr morgens zu uns kommen, strömen mit ihnen nicht 500 andere junge Leute durchs Schultor“, erklärt Thomas Thor. Ein weiteres Angebot setzt viel früher an: das „Präventionsprojekt“ der Beratungsstelle arbeitet mit verschiedenen Schulen in Hannover zusammen. Thor und seine Mitarbeiter*innen sprechen dabei Schüler*innen an, die durch einige, aber verhältnismäßig wenige Fehlstunden aufgefallen sind. Sie arbeiten Hand in Hand mit Lehrer*innen und Eltern. Es geht darum, frühzeitig ungünstige Muster zu erkennen und zu unterbinden. Es bietet genau die Art Unterstützung, die Anna Friedrichs gebraucht hätte, um nicht in eine manifeste Schulvermeidung abzurutschen.
Bei „KonneX“ werden Betroffene unbürokratisch dabei unterstützt, den Alltag sinnvoll zu strukturieren.
Stattdessen verlief Anna Friedrichs Schullaufbahn schwierig: Nach der neunten Klasse wechselte sie zunächst auf ein anderes Gymnasium. „Auch dort fühlte ich mich allein gelassen und bin irgendwann nicht mehr hingegangen“, erinnert sie sich. Der nächste Schritt war ein sechsmonatiger, stationärer Aufenthalt in einer psychiatrischen Kinderklink. „Aber ich habe dort kein Vertrauen gefasst, die Dinge außerhalb des Krankenhauses zu bewältigen.“ Ein Klinikarzt machte sie damals aufmerksam auf ein weiteres Angebot von Thomas Thor: Bei dem Konzept „KonneX“ werden die Betroffenen direkt und unbürokratisch dabei unterstützt, den Alltag sinnvoll zu strukturieren. Manchmal vermittelt Thomas Thor die Schüler*innen dazu in einen passenden Praktikumsplatz, damit die Jugendlichen außerhalb vom Schulkontext Erfahrungen sammeln können, die ihr Selbstbewusstsein stärken.
Anna Friedrichs wurde von ihm einfach zur Schule begleitet. Wochenlang trafen die beiden sich frühmorgens und legten den Weg gemeinsam zurück. „Wir haben uns unterhalten. Ich habe mich wahrgenommen und akzeptiert gefühlt“, erinnert sich Anna Friedrichs. Gut war auch: Es gab keine Ausflucht. Dass sie zusammen zum Unterricht gingen, war nicht verhandelbar. Nur wenige Wochen später fühlte die Oberstufenschülerin sich sicher genug, um allein weiterzumachen. „Die Karte mit Thomas Thors Handynummer hatte ich eine Zeit lang noch dabei. Zur Sicherheit.“ Gebraucht hat Anna Friedrichs diese Notfallnummer nicht. Sie bestand ihr Abitur und schließt gerade ihr Studium ab. Sie will Lehrerin werden. Die Schule macht ihre keine Angst mehr. Im Gegenteil: Sie möchte Jugendlichen später eine angstfreie Lernatmosphäre schenken.
Text: Julia Meyer-Hermann, Fotos: Christian Degener/AWO