Hannover. „An Dir ist ein Junge verloren gegangen“ oder „Du bist doch kein Mädchen!“: zwei Aussagen, die fast alle schon einmal gehört oder vielleicht sogar selbst getroffen haben – spontan, ohne sich dabei etwas zu denken, doch mit großer Wirkung für die Betroffenen. Die Haarlänge, die Puppe, das T-Shirt – manchmal genügt das Spielen mit einem Autoschlüssel, mit einer Handtasche oder mit einer Puppe und ein erwachsenes Familienmitglied tappt in die „Rosa-Hellblau-Falle“ und sagt einen der oben genannten Sätze. „Kinder lernen im Kontakt mit anderen und durch mediale Einflüsse, was beim jeweiligen Geschlecht überwiegend als typisch oder untypisch bewertet wird“, erklärten Almut Schnerring und Sascha Verlan, Autorin und Autor des Buches „Die Rosa-Hellblau-Falle“ den rund 200 pädagogischen Fachkräften aus den Kindertagesstätten der AWO Region Hannover gestern (Dienstag) im Grete-Hofmann-Saal in Hannover-Linden. „An der ist ein Junge verloren gegangen“ sei für ein Mädchen also kein echtes Kompliment, sondern der Beweis dafür, dass sie aus Sicht der Erwachsenen durch ihr Tun, ihre Vorlieben von der Norm abweiche. Nur wenige hätten ein so starkes Selbstbewusstsein, dass sie dem standhielten.
Pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten sind ständig herausgefordert, die Lebenslagen von Mädchen und Jungen geschlechtssensibel zu berücksichtigen. Rollenbilder, geschlechterbezogene Erwartungen und Vorgaben anderer infrage zu stellen und mit Kindern zu thematisieren, ist zudem in den Bildungs- und Lehrplänen der Bundesländer festgeschrieben. Mit einem Wechsel aus Impulsvorträgen, Übungen zur Selbstreflexion, Diskussionen im Plenum und Kleingruppenarbeit haben Schnerring und Verlan mit den Teilnehmenden typische Rollenklischees aufgedeckt und zum Widerstand aufgerufen – mit konkreten Tipps, wie sich die Genderfalle im Kita-Alltag umschiffen lässt.
„Wir wollen ein Bewusstsein für das eigene Verhalten gegenüber Jungen und Mädchen in der Kita schaffen. Erst dann können pädagogische Fachkräfte aus ihrem eigenen klischeehaften Haltungen und Alltaghandeln aussteigen und die Kinder mit ihren wirklichen Interessen und Möglichkeiten wahrnehmen und fördern“, betont Heike Rahlves, stellvertretende AWO Fachbereichsleiterin Kindertagesstätten und Organisatorin des Workshops mit dem Titel „99 Prinzessinnen plus ein Prinz macht?“. Ziel sei die vollständig gleichwertige Anerkennung aller Geschlechter und die grundsätzliche Aufhebung geschlechtsbezogener Urteile und Diskriminierung, so wie es in den Qualitätsstandards für geschlechtersensible Pädagogik der AWO Region Hannover festgeschrieben ist. Mit dem Thema setzt sich die AWO schon seit längerer Zeit auseinander“, sagt Rahlves: „Besteht zum Beispiel eine gemeinsame Haltung dazu, ob Mädchen und Jungen gleich behandelt werden sollen oder unterschiedliche Angebote benötigen und warum? oder: Was sind geschlechtsbezogene Hintergründe für auffälliges Verhalten von Jungen und Mädchen?“ Geschlechtergerechtigkeit werde in der Selbstdarstellung, im Leitbild und in der Konzeption berücksichtigt.
Um ein Thema, das nicht immer gut greifbar ist, interessant zu gestalten, haben sich Rahlves und AWO Fachberaterin Kornelia Heinrich, die den Workshop mitorganisiert hat, für Almut Schneering als Referentin und Sascha Verlan als Referent entschieden. Beide beschäftigen sich mit der Frage: Wie würden unsere Kinder aufwachsen, wenn die Klischeefallen und Schubladen nicht immer wieder bedient würden? Das rosa-hellblaue Angebot der Spielwarenindustrie erwecke zunehmend den Eindruck, Jungen und Mädchen lebten in grundsätzlich unterschiedlichen Welten“, so die Autoren. Rosa Überraschungseier und Monstertee, Prinzessinnen-Shampoo und Astronautenbettwäsche suggerierten, dass Jungen und Mädchen ganz unterschiedliche Interessen haben und von Geburt an andere Fähigkeiten mitbringen. „Prinzessin sei ein realer Berufswunsch bei Mädchen im Kita-Alter geworden“, betont Verlan.
„Das Thema ist wirklich präsent“, so Erzieher Noy Safera auf der Veranstaltung. Im Hortalltag beobachte er stereotypisches Verhalten bei den Kindern. Aber nicht alle verhielten sich gleich. Es komme darauf an, wie die Eltern damit umgingen. „Es schockiert mich immer wieder, wie extrem die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen sind und wie viel Macht die Eltern und wir als Erzieherinnen haben, das zu beeinflussen“, sagt Kitaleiterin Meike Schmitz. Auch sei es beeindruckend, wie stark das Unterbewusstsein durch die Werbung gesteuert werde.
„Damit möglichst viele unserer Fachkräfte die Möglichkeit hatten, dabei zu sein, haben wir den Workshop am Vormittag und auch am Nachmittag angeboten“, sagt Rahlves.
Finanziell unterstützt wurde die Veranstaltung durch die Stadt Hannover.