Region Hannover/Hannover. Langsam kommt das Pferd näher. Amara steht am Zaun und hält vorsichtig ihre Handfläche mit einer Möhre hin. Das Pferd schnuppert an ihrer Hand, schnappt sich die Möhre und frisst sie auf. „Es mag Möhren, genau wie ich“, freut sich die Sechsjährige. Gemeinsam mit ihrer Mutter und anderen Frauen und Kindern aus dem AWO Frauenhaus in der Region Hannover ist sie zu Besuch auf einem Reiterhof. Das seit März laufende Reitprojekt ermöglicht den Bewohnerinnen und ihren Kindern regelmäßige Besuche auf dem Hof. Begleitet werden sie dabei von den pädagogischen Mitarbeiterinnen des Frauenhauses.
„Für die Frauen und die Kinder ist dieser Ausflug eine wertvolle Abwechslung und hat einen therapeutischen Effekt“, sagt Frauenhausleiterin Anna-Carla Raddatz. Der Besuch folgt klaren Regeln mit immer wiederkehrenden Ritualen. Der Tag beginnt mit einem gemeinsamen Frühstück und einem Spaziergang über den Hof, auf dem es für die Kinder viel zu entdecken gibt. Danach werden die Pferde von der Weide geholt, geputzt und gestriegelt. Anschließend dürfen die Frauen und Kinder abwechselnd reiten. Am Ende werden die Pferde abgesattelt, versorgt und wieder auf die Weide gebracht. Alle sind mit Freude dabei und übernehmen Aufgaben. „Sie kümmern sich um die Tiere und übernehmen damit Verantwortung – sie haben das Gefühl, gebraucht zu werden und ein wichtiger Teil einer Gruppe zu sein”, betont Raddatz. Im Umgang mit den Pferden machen die Frauen und Kinder neue Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, Vertrauen und Gemeinschaftsgefühl.
Die Bewohnerinnen und Kinder des anonymen Frauenhauses haben durch häusliche Gewalt erhebliche physische und psychische Verletzungen erlitten. Diese Traumata können das Selbstwertgefühl und die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen und es ihnen erschweren es ihnen, Vertrauen zu entwickeln und Beziehungen aufzubauen, so Raddatz. Das Reitprojekt biete eine wertvolle Gelegenheit, diese negativen Erfahrungen zu überwinden. „Beim Reiten erleben die Frauen und Kinder Geborgenheit und Sicherheit. Viele von ihnen haben anfangs großen Respekt vor dem Reiten, können aber über sich hinauswachsen und so ihr Selbstbewusstsein stärken“, sagt Raddatz. Für die Kinder ist der Hof ein Ort, an dem sie Spaß haben, einfach Kind sein und neue Interessen entwickeln können. Sie verbringen Zeit in der Natur und lernen Neues über die Tiere auf dem Hof. „Pferde sind Herdentiere und deshalb nie allein auf der Weide“, weiß jetzt der zehnjährige Rebin. Und dass Hunde keine Schokolade fressen dürfen, weil sie sonst krank werden, hat die vierjährige Leonie direkt beim Frühstück gelernt.
Die positiven Auswirkungen der Ausflüge seien noch lange nach der Rückkehr ins Frauenhaus spürbar, berichten die Mitarbeiterinnen des AWO Frauenhauses. Die Teilnehmerinnen und ihre Kinder erzählen noch tagelang von ihren Erlebnissen. Das Projekt stärkt das Gemeinschaftsgefühl sowie die positiven Verbindungen unter Frauenhausbewohnerinnen. „Es ist schön, mein Kind so glücklich zu sehen“, sagt eine Mutter. Eine andere erklärt: „Ich war für einen Moment in einer ganz anderen Welt.“
Das vom Verein Mittendrin e.V. geförderte Projekt ist im März 2024 gestartet und läuft bis März 2025.
Text: Gaby Kujawa/AWO, Fotos: Christian Degener/AWO